So viel Himmel im Kopf

Jedes Jahr im Mai bist Du wieder da. Obwohl es Dich schon so lange nicht mehr gibt. Immer im Mai riecht die Welt genau so, wie sie es beim letzten Mal getan hat, als du noch lebtest.

Erinnerungen kommen manchmal so unerwartet. Weil da ein Geruch ist, ein Lied, ein Buch, ein Geschmack, ein Pullover in genau deiner Lieblingsfarbe. Bei mir passiert es immer im Frühling. Dann bist Du da, ganz plötzlich, immer über Nacht, immer mit diesem einen schrecklichen Traum. Die Zeit beginnt zu flimmern und ich vermisse dich, als wärest du gerade erst gegangen.
 
Alptraumwecker

Wie wäre es, wenn es einen Alptraumwecker gäbe? Einen, der auf die Träume aufpasst, in denen verlorene Menschen vorkommen. Wenn die Träume schlimm sind und verstörend, dann holt der Wecker einen zurück und schreibt in leuchtenden Buchstaben an die Decke über dem Bett: „Alles ist gut, Du hast nur geträumt“. Wenn es einer dieser Träume ist, in denen Du lachst und mich umarmst, dann schaltet der Wecker sich aus. Vorher schickt er eine Email an die Arbeit, dass man heute nicht kommen wird. Weil es wirklich Wichtigeres gibt im Leben.

Manchmal wähle ich Deine alte Nummer. Die letzte Zahl zögere ich hinaus, so lange es geht. Stelle mir vor, Du würdest gleich rangehen. Ich überlege, was ich Dir erzählen würde, von meinem Tag, meiner Woche, meinen Jahren. Diese Sekunde bevor ich die letzte Sieben wähle, ist die längste die ich kenne. Dann kommt das Besetztzeichen.

Wann das aufhört? Vielleicht nie. Wie wäre es, wenn jeder Mensch, dem man nahe kommt, eine Ziffer um den Hals tragen würde: „Solange wirst du brauchen, um über mich hinwegzukommen.“ Ein paar Menschen hätten ein über dem Herzen. Es wäre einfach gut, Bescheid zu wissen. Vielleicht würde man mehr Fotos machen. Öfter anrufen. Mehr verzeihen.

Im Radio läuft ein Interview. Der Moderator fragt seinen Gast, ob er etwas bereut in seinem Leben. Ich denke sofort an Wien, an diese Telefonzelle. Mit den letzten Groschen in der Hand stehe ich da, habe den Hörer schon abgehoben, will Dich anrufen. Meine Freundin klopft an die Scheibe. Fragt, ob wir Eis essen wollen. Ich lege den Hörer wieder auf, nehme die Groschen und entscheide mich für Erdbeer und Vanille. Es wäre das letzte Mal gewesen, dass Du dich gemeldet hättest, nach der letzten Sieben.

Der-letzte-Worte-Saal

Wie wäre es, wenn es in jeder Stadt einen Letzte-Worte-Saal geben würde? Ein kleines Pult auf einer kleinen Bühne und jeder könnte kommen und das sagen, wofür er zu spät kam. Es stünde immer jemand an diesem Pult, 24 Stunden, rund um die Uhr. Weil es so viele Menschen gibt, denen die ungesagten Worte auf der Seele brennen. Und jeder darf dazu kommen, darf sich setzen und zuhören. Vielleicht wäre es tröstlich. Vielleicht würde man sich einen Wimpernschlag lang weniger verloren fühlen. Die Worte sind nämlich immer dieselben: „Ich liebe dich. Es tut mir leid. Ich verzeihe Dir. Du bist so wichtig für mich. Ich liebe Dich. Ich liebe Dich.

Kummer-Konto

Trauer ist wie eine Parkkralle für das Herz. Sie lässt einen erst los, wenn man bezahlt hat. Das ist so schwer manchmal, so einsam, so bitter. Wie wäre es, wenn man all diese zahllosen Stunden und Nächte, die man um jemanden weint, auf ein Kummer-Konto einzahlen könnte? Und immer, wenn das Leben sich mal wieder schwer tut und die Sorgen nicht verschwinden wollen, dann könnte man sich ein paar Stunden mit diesem Konto frei kaufen. Weil man schon genug Kummer hatte.

Manchmal zucke ich zusammen, wenn ich jemanden „Mäuschen“ rufen höre. Früher war es mir peinlich, wenn Du mich so genannt hast. Klar. Heute stehe ich im Supermarkt, jemand ruft sein kleines Mädchen "Mäuschen" und die Zeit beginnt zu flimmern. In diesem letzten Mai saß ich so oft an Deinem Bett im Krankenhaus. Mit meinem rumpelnden Mäuseherz und den vielen ungesagten Worten. Sterben macht hilflos.

Flüssige Liebe

Wie wäre es, wenn man Liebe flüssig machen könnte? Dann könnte man Koma-Patienten, von denen niemand genau weiß, was sie noch fühlen, denken oder spüren, einen Schlauch legen, direkt ins Herz. Und durch den könnte man seine ganze Liebe pumpen, so lange es eben geht. Nur für den Fall. Vielleicht könnte man die flüssige Liebe auch einfrieren, so wie Blutkonserven. Und wenn da jemand liegt, der niemanden mehr hat, dann könnte er ein bisschen Spenderliebe abbekommen.

Ich sitze hier, denke an Dich, es ist fast Mai. Ich weiß, Du kommst bald. So wie jeden Mai. Wenn der Himmel so blau ist wie sonst nie. 


(April 2013)