Wie ich den verdammten Hund im Grunewald verlor
Rio ist vier Monate alt, ein Shibamädchen und sieht aus wie ein niedlicher Fuchs. Eigentlich heißt sie Betty, so hatte es sich der Züchter ausgedacht. Mit Betty verbinde ich vor allem den Song „Bette Davis Eyes“, in dem es um eine Frau mit großen dunklen Augen geht, die den Männern den Kopf verdreht. Der Hund hat aber Knopfaugen und interessiert sich nicht für Männer. Rio Reiser hingegen war auch irgendwie ein Fuchs: scheu, trotzig und schwer erziehbar. So wie Hunderio, die keinen Millimeter weiter geht, wenn es ihr nicht sinnvoll erscheint und Polizisten schon von weitem anknurrt.
Keine Ahnung, wieso sie plötzlich abgehauen ist. Eigentlich hört sie sehr gut, der Teufelssee ist schön und ruhig und ich hatte die stinkende Käsewürfel in der Tasche, die der Hund so gerne mag. Wer jemals versucht hat, einen Hund zu erziehen, kennt das: Normale Leckerlis in der einen Tasche, „besondere Leckerlis“ in der anderen, Kacktütchen in der Dritten und eine undefinierbare Mischung aus allem in der Vierten.
Rio stürmt über den Parkplatz und schlägt den Weg zum Teufelsberg ein. Der zweithöchste Berg Berlins. Weltkriegsschutt, eine alte Abhörstation der Amerikaner und eine fast unbefahrene Straße für Skaterkids. Der Hund rast entschlossen bergauf. Genervt stolpere ich mit meinen schweren 90er-Jahre-Dockers hinterher. Rio biegt um die nächste Kurve. Mit lautem Getöse brettert ein Skater bergab. Als ich mich ebenfalls um die Kurve schleppe, ist der Hund spurlos verschwunden.
Eventuell habe ich gerade versucht, einen Fuchs zu fangen
Drei Stunden später bin ich den Teufelsberg sieben Mal rauf und wieder runter gelaufen. Ich kenne jeden einzelnen Skater mit Vornamen. Ich habe mit dem Förster, der Polizei, der Tiersammelstelle und Tasso telefoniert. Tasso ist eine Datenbank für entlaufene Haustiere. Der Mann am Telefon ist sehr freundlich.
„Ihr Hund wird an die Stelle zurückkommen, an der er Sie verloren hat“, sagt er. „Das machen Hunde normalerweise so.“ Der Mann von Tasso hat natürlich vollkommen recht. Theoretisch. Bei eher selbstständigen Rassen funktioniert das leider nicht. Das sollte ich aber erst viel später erfahren.
Es dämmert und ich kämpfe mich durchs Dickicht. An einem Baumstumpf bewegt sich etwas Flauschiges. „RIO!“ rufe ich erleichtert und stürze auf den Baumstumpf zu. In einer kleinen Sandkuhle kuscheln sechs Wildschweinfrischlinge. Verzückt betrachte ich flauschigen Schweinebabys. Hinter dem Baumstumpf erscheint ein borstiger Kopf. Eine Wildsau in der Größe meines Sofas starrt mich misstrauisch an und grunzt unfreundlich. „Waaaaahhhhhhhh!!!!!“ schreie ich und renne los. Ich stolpere, falle und rutsche zeternd den Waldhang hinunter. Später lese ich im Internet, dass man sich bei der Begegnung mit einem Wildschwein mit ruhigen Bewegungen und möglichst unauffällig aus dem Blickfeld des Wildschweins entfernen soll, ohne es aus den Augen zu lassen.
Sechs Stunden später sitze ich immer noch auf dem Parkplatz und rauche die Notfallzigaretten aus dem Auto meiner Mutter. Sie schmecken wie schwelender Sondermüll. Es ist bereits dunkel, die Spaziergänger sind verschwunden. Ich marschiere ein letztes Mal an die Kurve.
„Riiioooo!! Du darfst heute bei mir im Bett schlafen, meine benutzen Taschentücher fressen und den Briefträger anbellen!“ rufe ich. Prompt taucht auf dem Waldweg Rio auf.
Ich sinke auf den matschigen Boden und raschle mit der Leckerlitüte. „Riolein, du blöder Misthund, komm sofort her. Sonst schenke ich dein Lieblingsspieli dem übergriffigen Dackel von der Hundewiese!“ Das alles säusle ich natürlich im zuckersüßen Belohungstonfall. Habe ich im Internet gelesen: Bloß nicht in einer anderen Tonlage sprechen als sonst. Rio legt den Kopf schief und überlegt. Dann verschwindet sie im Dickicht. Das Letzte, was ich sehe, ist ein langer buschiger Schweif.
Moment. Langer, buschiger Schweif?? Der Schwanz meines Hundes ist kringelig und kurzhaarig! Eventuell habe ich gerade versucht, einen Fuchs zu fangen. Ich will nach Hause. Hier gibt es Wildschweine und Füchse und bestimmt auch Bären und Zwerge und Hexen.
Ein Wildschwein in Opel-Corsa-Größe fletscht die Zähne
Ich entwerfe ein Plakat: „Ich bin ein dummer, sturer Hund, bitte fangen Sie mich ein und bringen mich nach Hause. Egal wie!“ Nach einem kurzen Besinnungsrotwein formuliere ich den Text nochmal um. Ich hänge das Plakat an jeden einzelnen Baum im Grunewald.
Tag drei. Ich bin weitere 135 Male den Teufelsberg hoch und runter gelaufen. Kein Rio. Ich bin verzweifelt. Die Sonne ist bereits untergegangen. Ein grauer Hund läuft einsam vor mir über den Weg. Ob der auch abgehauen ist? „Na Du Hübscher“ sage ich. Der graue Hund ist ein Wildschweineber in Opel-Corsa-Größe und fletscht die Zähne. Im Internet lese ich später, dass Wildschweine permanente Knirscher sind, damit ihre Zähne stets rasiermesserscharf bleiben. Ich gehe unauffällig und mit ruhigen Bewegungen rückwärts, ohne das Schwein aus den Augen zu lassen. Als das Riesenviech einen Schritt in meine Richtung macht, renne ich laut schreiend und mit wedelnden Armen zum Auto.
Am nächsten Tag ist Rio immer noch nicht da. Ich google: „Fressen Wildschweine Hunde?“ „Ab wann erfrieren Hunde, ab wann verhungern Hunde, ab wann verdursten Hunde, ab wann verwildern Hunde, können Hunde ertrinken und was kostet eine verdammte Helikopterstaffel, um einen Hund im Grunewald zu suchen?“
Wenn dieser Hund jemals wieder auftaucht, bekommt sie Fußfesseln, ein Trackinggerät und eine Schleppleine in der Länge der chinesischen Mauer. Das schwöre ich auf die Welpenfibel von Martin Rütter. Gegen Abend ruft eine Kellnerin aus dem Segelklub vom anderen Ende des Grunewalds an. Sie hat den Hund gefunden und einen meiner Zettel. „Liegt aufm Sofa und lässt sich den Bauch kraulen“, sagt sie vergnügt.
Anarchie ist keine Lösung!
„Sind entlaufene Hunde traumatisiert?“ google ich und notiere mir die Nummer einer Hundetherapeutin. Als ich Rio abhole, freut sie sich sehr. Sie ist einfach immer weiter durch den Wald gelaufen. Bis zum Segelclub. Da gab es genug Essensreste aus den Restaurants. Ausrangierte Boote unter denen man trocken und sicher schlafen kann. Rio ist weder verstört, noch verwildert, noch abgemagert. Ich glaube, sie hatte eine gute Zeit. Ich glaube, sie wäre niemals an die Kurve des Teufelsbergs zurückgekehrt. Vielleicht hätte sie eine Bande mit dem kleinen Fuchs und den Frischlingen gegründet. Vielleicht wäre sie für immer dort geblieben und hätte tagsüber den Seglern den Fisch vom Teller geklaut. „Hier lebt seit 2016 ein ganz besonders schöner, schlauer Fuchs“ hätten sie sich erzählt.
„Anarchie ist doch keine Lösung“ erkläre ich Hunderio vorwurfsvoll. Sie reißt ihr milchzahniges Mäulchen auf und gähnt mich an. Dann versucht sie, ihr Halsband abzustreifen. Du heißt ab sofort „Rio Ausreißer“, sage ich und verdrehe die Augen. Der Hund grinst.
(April 2016)